Glücklich im „Tollhaus“ der Kontexte
Lesen ist eine Kulturtechnik. Das Benutzen einer Bibliothek, die Suche im Katalog muss gelernt werden. Aber das Schönste am Bibliotheksbesuch, am Arbeiten und Verweilen im Lesesaal ist das, was man nicht lernen muss.
TEXT: MARIE WOKALEK
Unsere Zeit, so formulierte es Michel Foucault Ende der 1960er Jahre in seinem Text „Von anderen Räumen“,
sei eher ein Zeitalter des Raumes als der Geschichte. „Wir leben im Zeitalter der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und Fernen, des Nebeneinander und des Zerstreuten.“ Der Strukturalismus versuche, „zwischen Elementen, die über die Zeit verteilt“ sind, „Beziehungen herzustellen“ und sie „als ein Nebeneinander, als ein Gegenüber, als etwas Verschachteltes“ erscheinen zu lassen. In dieser Perspektive zeigt sich die Welt als ein räumliches Netz aus sich kreuzenden Strängen, die verschiedenen Punkte zu Konfigurationen verbinden.
Die Erfahrungen, die wir heute in den digitalen Räumen des Internets machen, passen gut zu Foucaults Skizze unseres Zeitalters als Netz aus Konfigurationen. Für mich wäre das Zeitalter des Digitalen ohne konkrete Bibliotheksräume gerade deshalb ein Albtraumraum.
Raum und Ort
Das Substantiv Bibliothek meint im Deutschen zunächst den konkreten Aufstellungsort einer Bücher-, Noten-, Mediensammlung in einem Gebäude – einen Büchersaal. Im übertragenen Sinne wird manchmal auch die individuell zusammengestellte Sammlung von Büchern, die man bei Ortswechseln mit sich nimmt (bzw. auf der Flucht meist nicht mit sich nehmen kann, was die Entwurzelung verschärft) Bibliothek genannt.
»Die Bibliothek steht da wie eine Leiter ins Unendliche.«Alfred Polgar: Kleine Schriften
Eine Bibliothek ist für mich ein Ort, der es mir erlaubt, mich auf den Entdeckungstouren zu den Konfigurationen und Kreuzungspunkten, die die Bücher oder die Partituren bergen, zu verlieren. Hier kann ich ohne roten Faden in Labyrinthe hineinrennen, mir meine Gedankennetze knüpfen und immer wieder abstürzen. In der Unendlichkeit des Denkraums, den die Bestände eröffnen, bleibe ich dennoch abgesichert durch meine körperliche Anwesenheit am konkreten Ort des Lesesaals. Seine Architektur – so schäbig oder grandios sie auch sein mag – die gewachsene Ordnung seiner Bestände, die Materialien, die um mich herum auf dem Tisch verteilt liegen, meine rechte und meine linke Hand, die diese Gegenstände hin- und herschieben, sortieren, stapeln: All dies bietet mir den dreidimensionalen Halt, der für die Orientierung im Denken entscheidend ist.
Körperlichkeit, sinnliches und soziales Erleben
Lesen ist eine Kulturtechnik. Das Benutzen einer Bibliothek, die Suche im Katalog muss gelernt werden. Aber das Schönste am Bibliotheksbesuch, am Arbeiten und Verweilen im Lesesaal ist das, was man nicht lernen muss: schauen, hören, spüren, riechen, schlafen, gähnen, sich strecken, aufstehen, hinsetzen, herumlaufen, auf Tritthocker oder Leitern steigen. Die Sinnlichkeit des ganzen Vorganges und seine soziale Dimension stellt jedes Wischen und Tippen auf der kleinen Scheibe zu Hause auf dem Sofa in den Schatten. In der Bibliothek ist es still, Papier raschelt, jemand spricht zu laut oder lässt beim Anschalten des Laptops den nervigen Windows-Sound tönen. Irgendwo schnarcht jemand, niest. Es riecht staubig oder zu stark nach Parfum. Ein Fenster schlägt. Die Sonne blendet oder es ist zu dunkel.
»In Bücher gehen wir hinein/ wie in Gasthäuser/ hungrig durstig/ ausgehungert.«Thomas Bernhard: Ritter, Dene, Voss
Im Lesesaal bilden alle Lesenden und Lernenden einen sozialen Körper, der atmet, denkt, träumt. Man trifft Personen, die man unbedingt wiedersehen wollte und oft genug die, denen man eigentlich aus dem Weg gehen wollte. Meist plaudert man viel zu lang am Kopierer, am Kaffeeautomaten, an der Ausleihe – und kommt dabei auf die besten Ideen.
Ordnung, nahe am Wahnsinn
Foucault zählt in seinem oben zitierten Text die Bibliotheken zu den sogenannten „anderen Räumen“, zu den „Gegenorten“. Er nennt diese Orte „Heterotopien“, „tatsächlich verwirklichte Utopien“. Bibliotheken zeichneten sich als Heterotopien dadurch aus, dass in ihnen, so Foucault, „die Zeit unablässig angesammelt und aufgestapelt wird“. Wie das Kino oder das Theater stellen auch Bibliotheken verschiedene, miteinander eigentlich unverträgliche Räume an einem einzigen Ort nebeneinander.
Das grenzt an Wahnsinn. Und dass jede Ordnung „gerade in diesen Bereichen nichts als ein Schwebzustand überm Abgrund“ ist, wie Walter Benjamin in „Ich packe meine Bibliothek aus“ schreibt, ist längst zu einem literarischen Topos geworden. Die Architektur ist aufgefordert, für diesen Schwebezustand eine passende Form zu finden.
»'Herr Bibliothekar,‘ rufe ich aus ‚Sie dürfen mich nicht verlassen, ohne mir das Geheimnis verraten zu haben, wie Sie sich in diesem […] Tollhaus von Büchern zurechtfinden.‘«Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften
So unvollkommen die Ordnung der Bestände auch sein mag, einen unverzichtbaren Vorteil gegenüber den rein digitalen Räumen wird die Benutzung von Handmedien in einem konkreten architektonischen Raum immer haben: Die Aufstellung zeigt mir die Kontexte und schickt mich nicht auf eine albtraumhaft endlos dahinfließende Welle von Hyperlink zu Hyperlink.