„Der Wert des Kompromisses ist verloren gegangen“

Timon Gremmels und Prof. Elmar Fulda, beide tragen Anzug, unterhalten sich vor dem großen Bild einer Musikerin
(Foto: Lena Bils)

Timon Gremmels: Seit Januar 2024 ist der diplomierte Politikwissenschaftler Minister in Hessen und zuständig für die Hochschulen. Demokratische Prozesse hat er von der Pike auf gelernt und durchlebt: Er engagierte sich bereits in den Schüler- und Studentenvertretungen politisch, dann bei den Jusos, professionell schließlich als Landtags- und Bundestagsabgeordneter. Als Entscheider schätzt Timon Gremmels Teamarbeit und das kritische Hinterfragen eigener Haltungen. Im Gespräch mit Prof. Elmar Fulda wirft er einen Blick auf seinen politischen Kompass, der vor allem einer persönlichen Maxime folgt: als Politiker authentisch zu sein.

DOKUMENTATION: BJÖRN HADEM

Prof. Elmar Fulda: Wie haben Sie erfahren, dass Sie in Hessen Minister werden?

Timon Gremmels: Ich war im Zug Richtung Berlin. Beim Anruf von Nancy Faeser mischten sich bei mir Vorfreude mit Demut und der Ahnung davon, was auf einen zukommt. Entscheidend war für mich aber der 18. Januar, als der Ministerpräsident die Mehrheit bekam.

Politiker ist ein Beruf, über den viele Menschen nicht so gut sprechen. Wie erleben Sie dies im politischen Alltag?

Als ich ab 2009 selbst erstmals ein politisches Amt bekleidete, sprachen die Menschen noch anders über Politiker. All das ist heute rauer und härter geworden. Doch das hat sich die Politik in Teilen selbst zuzuschreiben. Mir ist daran gelegen, als Politiker zu überzeugen und zu zeigen, dass Politiker ein ehrenvoller und abwechslungsreicher Beruf ist, Spaß macht und mit viel Selbstbestimmung einhergeht.

Wie schützen Sie sich gegen die zunehmende Verrohung im politischen Tagesgeschäft?

Ich bin dankbar, dass ich – außer den leider fast schon üblichen Beschimpfungen im Internet – bisher keinerlei verbale und körperliche Attacken erleben musste. Die Verrohung hat viel mit den sozialen Medien zu tun, die Fluch und Segen zugleich sind. Einerseits ermöglichen sie kurze, schnelle, direkte und authentische Kommunikation. Andererseits habe ich diese Verrohung vor allem auf Twitter (X) erlebt, wovon ich mich weitestgehend zurückgezogen habe. Aus meiner Überzeugung muss Kommunikation authentisch sein: Lieber in Ruhe mit einem guten Konzept rangehen als irgendeinen Schnellschuss wagen.

Demokratie baut auf den mündigen Bürger, setzt idealerweise voraus, dass Menschen informiert sind.

Wir haben in den letzten Jahren zu viel an der politischen Bildung gespart. In Bundes- und Landtagen diskutieren Politiker tagesaktuell über die Frage: Wie soll man mit der AfD umgehen? Man müsste viel früher ansetzen und die Demokratieforschung sowie die Debattenkultur stärken. Das Verfahren, wie man einen Kompromiss aushandelt, ist völlig in Verruf geraten. Früher repräsentierte er etwas Positives: Zwei Seiten formulieren ihre Maximalforderungen, setzen sich zusammen und verständigen sich auf etwas, womit beide Seiten leben können. Heute wird das sofort als Wortbruch diffamiert. Der Wert des Kompromisses, sich aufeinander zubewegen, ist verloren gegangen.

Wie können wir Demokratie stärken?

Durch deren klassische Wegbegleiter wie ein funktionierendes Vereinsleben, Gewerkschaften und Bürgerinitiativen. Demokratie ist eine tägliche Lernaufgabe, und auch ich habe mich von der Pike auf mit ihr vertraut gemacht: zuerst in der Schülervertretung, dann bei den Jungsozialisten und in studentischen Vertretungen. Genau diese Chancen müssen wir wieder aufzeigen: wie spannend es sein kann, sich für andere einzusetzen.

Prof. Elmar Fulda unterhält sich mit Timon Gremmels, durch die Tür des Besprechungsraums fotografiert
(Foto: Lena Bils)

Wann haben Sie entschieden, Politiker zu werden?

Ich habe nie wie Gerhard Schröder an einem Zaun gerüttelt und gesagt: Da will ich rein. Ich sage meinen Praktikanten immer: Macht eine ordentliche Ausbildung und sammelt Berufserfahrung jenseits der Politik. Ich selbst habe Politikwissenschaften studiert, habe für Landtags- und Europaabgeordnete gearbeitet, war aber auch in der freien Wirtschaft tätig. Für mich war es wichtig zu erleben, dass ich auch jenseits der Politik reüssieren kann.

Sind Sie Teamspieler oder Einzelkämpfer?

Teamspieler – ohne Wenn und Aber.

Was ist Ihnen im Team wichtig?

Ich habe für mich nicht den Anspruch, dass ich alles immer besser weiß. Ich selbst bin mein größter Kritiker. Sich selbst zu hinterfragen, halte ich für essenziell. Am Ende müssen meine Mitarbeiter aber akzeptieren, dass ich die Entscheidung treffe, das geht nur als Team im guten Miteinander, man muss kritikfähig sein. Ich habe Gott sei Dank keine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Ja-Sager sind. Ich brauche das Kontra, muss meine eigene Position durch Reibung und Diskurs mit meinem Team wachsen und sich festigen lassen.

Die Herausforderung, Balance zu halten zwischen Selbstbewusstsein und Kritikfähigkeit, ein gesundes Gleichgewicht in der Selbstwahrnehmung zu entwickeln, gilt auch für Künstler*innen. Hat Politik Ähnlichkeiten mit den darstellenden Künsten: Auftritt vor großem Publikum, Haupt- und Staatsaktion wie im klassischen Drama?

Wer als Politiker versucht, eine Rolle zu spielen, wird keinen großen Erfolg haben und es nicht durchhalten – Authentizität ist zentral. Gleichwohl müssen Politiker bei Podiumsdiskussionen und Debatten im Scheinwerferlicht performen, also auf den Punkt genau Botschaften setzen.

Energiepolitik ist heute immer auch Klimapolitik und kein typisches SPD-Thema.

Das ist schon ein typisches SPD-Thema, wenn man sich zum Beispiel frühere SPD-Politiker wie Hermann Scheer als Vordenker der Energiewende in Erinnerung ruft, denen es wichtig war, Energiepolitik sozial zu gestalten: durch Stadtwerke als Teil der Daseinsvorsorge, Energie in Genossenschaftshand statt nur im Griff der großen Konzerne, also Partizipation und schließlich erneuerbare Energien als arbeitsplatzintensive Themen für untere Einkommen.

Prof. Elmar Fulda unterhält sich mit Timon Gremmels, die beiden spiegeln sich in der Glasfassade des Besprechungsraums
(Foto: Lena Bils)

Und wie kamen Sie zur Energiepolitik?

Ich war zehn Jahre alt, als Tschernobyl explodiert ist. Das Thema ist Teil meiner eigenen Sozialisation und hat mich stark geprägt, sodass ich sehr früh anfing, mich für erneuerbare Energien stark zu machen. Mit 16 Jahren hatte ich auch darüber nachgedacht, ob ich zu den Grünen gehen sollte. Aber die waren mir damals zu monothematisch.

Die SPD hat immer für gute Arbeit gekämpft. Gilt das weiterhin?

Natürlich – indem ich mich für gute Arbeitsbedingungen in Wissenschafts- und Kulturbetrieben einsetze. Das ist nicht nur Aufgabe der Arbeitsministerin oder des Wirtschaftsministers. Umso mehr angesichts der Tatsache, dass es gerade in Wissenschaft und Kunst viele zeitlich befristete Verträge gibt.

Hochschulen sind Zukunftsentwickler. Was erwarten Sie von ihnen?

Dass wir gemeinsam daran arbeiten. Die Hochschulen in Hessen genießen eine hohe Autonomie, das ist auch gut so. Klar gibt es Herausforderungen, vor allem was Gebäude und Ausstattung betrifft, da müssen wir genau hinschauen. Und es gibt private Hochschulen, die Studierenden versprechen, sie in schnellster Zeit zum Abschluss zu führen. Da bin ich eher skeptisch, denn für mich gehört zum studentischen Leben auch Zeit für realen Austausch – nicht nur über digitale Plattformen und Online-Seminare. Wir sollten schauen, was wir von den privaten Hochschulen übernehmen und lernen können, auch, um für ausländische Studierende attraktiv zu sein. Wie betreut man Studierende, dass sie zu bestmöglichen Abschlüssen kommen? Die Abbrecherquoten sind noch zu hoch und man muss Modelle finden, wie man mit Talent-Scouting zeitiger schaut, ob Student und Hochschule zusammenpassen.

Ich sehe starke Konkurrenz in den Südländern wie Bayern und Baden-Württemberg. Die Situation an deren Hochschulen ist oft besser. Die Studierenden können zum Beispiel in den Lehrämtern bis zu zwei Jahre länger studieren. Und für eine Professur wird deutlich mehr als in Hessen bezahlt.

Hessen ist aber in den letzten Jahren deutlich besser geworden – wir haben da aufgeholt und einiges gemacht – Stichwort Loewe-Professuren. Jetzt, in Zeiten knapper Kassen, müssen wir aufpassen, dass wir nicht pauschal mit dem Rasenmäher über den Landeshaushalt gehen. Vielmehr müssen wir Zukunftsprojekte fördern: Wo sind Investitionen nötig, von denen wir beim nächsten Aufschwung profitieren? Ich bin da ein Freund der Unterscheidung zwischen konsumtiven Ausgaben und Investitionen. Ich bin sicher, dass wir mit Boris Rhein, der selbst Wissenschaftsminister war, einen Verbündeten haben.

Erfordert Wissenschaftspolitik einen langen Atem?

Das ist so: Ich profitiere ja heute von den Entscheidungen meiner Vorgänger. Bemerkenswert übrigens: In 40 Jahren HMWK hatte kein Minister dort eine zweite Amtszeit. Dennoch muss ich an übermorgen denken, um Voraussetzungen zu schaffen, dass auch mein Nachfolger von mir profitieren kann – so wie ich von den Erfolgen von Angela Dorn profitiere.

Prof. Elmar Fulda unterhält sich mit Timon Gremmels, er lächelt
(Foto: Lena Bils)

Die Hochschulpakt-Verhandlungen haben begonnen. Was haben Sie sich dafür vorgenommen?

Zunächst sollten wir schauen, welche Erfahrungen wir mit dem letzten Pakt gemacht haben – was ist gut gelaufen und was weniger? Entbürokratisierung wird sicher ein Thema sein. Ich kann mir vorstellen, dass wir weniger projektbezogene als vielmehr feste Budgets zur Verfügung stellen, damit die Verwaltungslast der Hochschulen sinkt, Anträge zu stellen. Ich möchte all das partnerschaftlich mit den Hochschulen angehen.

Sie wandern gern – Kurz-, Mittel- oder Langstrecke?

Als Schirmherr der Grimmsteig-Tage könnte ich dort die Langstrecke von 104 Kilometern ausprobieren, aber dafür bin ich nicht in Kondition. Für die Mittelstrecke von 24 Kilometern habe ich mir aber einen festen Platz im Terminkalender freigehalten.

An welchem Ort können Sie sich entspannen?

Im Theater, im Museum, im Musical, in der Oper. Ich merke dann, dass es mir hinterher besser geht, gerade nach Schöngeistigem. Aber ich finde auch Theaterstücke spannend, die hinterher mit einem was machen, worüber man noch lang nachzudenken hat.

Aus Frankfurter Sicht kann man sich nicht vorstellen, dass es in Nordhessen Kulinarisches gibt.

Das ist eine Steilvorlage! Ahle Wurscht: Diese luftgetrocknete, geräucherte Dauerwurst aus Schweinefleisch ist eine wirklich schmackhafte Spezialität aus Nordhessen. Ich habe Kollegen am Kabinettstisch, die mich fragen, ob ich ihnen eine aus meiner Heimat mitbringen kann. Gut essen und trinken verstehe ich übrigens auch als ein Kulturgut. Und da haben wir in Hessen viel zu bieten.

Bier oder Wein dazu?

Ein Bier. Auch Graubrot mit Butter sollte dabei sein – sehr empfehlenswert.

Timon Gremmels sitzt während dem Interview an einem Besprechungstisch, er trägt einen blauen Anzug.
(Foto: Lena Bils)

Timon Gremmels (48) hat Politik- und Rechtswissenschaften in Marburg studiert. Ab 2008 war er Parlamentarischer Referent für Wirtschaft, Verkehr, Energie, Landesentwicklung und Europa der SPD-Landtagsfraktion, bevor er 2009 als Abgeordneter in den Hessischen Landtag gewählt wurde. Seit 2017 war Timon Gremmels als Abgeordneter des Deutschen Bundestags u. a. Mitglied im Ausschuss für Klimaschutz und Energie, Mitte Januar 2024 übernahm er das Amt des Hessischen Ministers für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur.

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