Kammermusik – auf der Suche nach der beständigen Beziehung?
Zwei und mehr gleichberechtigte Einzelstimmen haben sich gefunden – und verschmelzen zu einem großen Ganzen. Das ist gelingendes Zusammenspiel. Manchmal wird sogar eine Lebensgeschichte daraus. Nur: Wie funktioniert das ideale „System“ Ensemble?
TEXT: TIM VOGLER
An der HfMDK gibt es bei knapp 1.000 Studierenden derzeit an die 85 Kammermusikensembles verschiedenster Zusammensetzungen. Diese erstaunlich große Anzahl erklärt sich daraus, dass es sowohl Ensembles gibt, die in eigenen Studiengängen (Master und Konzertexamen) Kammermusik professionell studieren, als auch daraus, dass alle instrumentalen Studiengänge Kammermusik im Pflicht- und Wahlbereich anbieten.
Pflicht bedeutet, dass alle Studierenden in einer bestimmten Semesteranzahl Kammermusik spielen müssen. Wahl heißt, dass sie darüber hinaus in zusätzlichen Kammermusikprojekten oder -Ensembles mitwirken können. In beiden Fällen gibt es für ein festgelegtes Arbeitspensum sogenannte Credit Points (CPs), die zum erfolgreichen Abschluss des Studiums benötigt werden (30 Stunden Workload pro CP).
Schaut man sich die Ensemblestruktur genauer an, dann ist zu erkennen, dass in der Zusammensetzung (vom Duo über Trio und Quartett bis zum Oktett) verschiedenste Besetzungen zu finden sind. Es gibt projektgebundene Ensembles, die sich für einen speziellen Anlass zusammengefunden haben, genauso wie diejenigen, die ein ganzes Semester miteinander arbeiten. Besonders schön ist es, wenn ein Ensemble längerfristig, also über mehrere Semester oder gar Jahre hinweg, zusammenbleibt, bis hin zu einer wirklich langfristigen Bindung in ein gemeinsames Berufsleben hinein. Das ist bereits einigen Frankfurter Streichquartetten aus der HfMDK gelungen, ich denke da an das Aris, das Eliot oder das Malion Quartett. Weitere werden bestimmt folgen.
Wie finden sich Ensembles?
Ich selbst bin in der DDR aufgewachsen, in Ost-Berlin. Bereits während der Schulzeit an der Spezialschule für Musik habe ich zwei meiner späteren Quartettkollegen getroffen, wir waren befreundet, altersmäßig sehr nahe beisammen und hatten ähnliche Träume oder Vorstellungen vom späteren Leben. Diese hatten immer mit Freiheit zu tun, auch in Hinblick auf eine später eventuell mögliche Reisefreiheit, die man in der DDR (man konnte nicht frei überall hinreisen) im Musikerberuf mit etwas Glück erreichen konnte. Später, an der Hochschule, trafen wir unseren Bratscher und gründeten das Vogler Quartett, welches in 2025 40 Jahre in derselben Besetzung gemeinsam gespielt haben wird. Wir waren alle ähnlich sozialisiert, entweder aus Musiker- oder Pfarrfamilien stammend, sprachen dieselbe Sprache, hatten ähnliche Interessen und einen gemeinsamen Humor. Daraus entstand ein guter Humus für die vielen folgenden Jahre.
An der HfMDK entstehen Ensembles auf verschiedenen Wegen. Am häufigsten ist es, dass sich Studierende untereinander finden. Vielleicht möchte jemand Quartett spielen und es fehlen noch Mitspielende. Öfter sind es bereits zwei – vielleicht befreundet –, die sich ergänzende Kammermusikpartner*innen suchen. Eine andere Möglichkeit ist die, sich als Einzelspielende anzumelden. In diesem Falle werden dann von uns Professor*innen einzelnen Studierende zu Ensembles zusammengesetzt.
Es kann in all diesen Beispielen passieren, dass Ensembles entstehen, die gut, sehr gut oder vielleicht auch nicht ideal zusammenpassen. Gründe dafür können größere Altersunterschiede sein oder verschiedene Level instrumentalen Könnens. So ist vorstellbar, dass Studierende aus Sympathie zusammenfinden, die fachlich nicht zueinander passen. Oder solche, die sich nicht „verstehen“ und keine gemeinsame Sprache finden, die sich nicht kennen und ganz verschiedene Sprachen sprechen.
An einzelnen Hochschulen wurden systematisch Ensembles zusammengesetzt, die inhomogen waren, d. h. sehr gute Spieler mussten bewusst mit weit weniger guten zusammenspielen, es wurde versucht, dadurch soziale Kompetenzen und Toleranz zu fördern. In der Kammermusikabteilung der HfMDK versuchen wir – wenn zufällig solche inhomogenen Gruppen entstanden sind – mit ihnen trotzdem eine gangbare Perspektive zu finden. Alle sollen lernen, ihr Gegenüber anzunehmen und sich auf Unterschiede einzulassen. Diese Unterschiede können im Übrigen auch kommunikativer Art sein. Während viele zuverlässig und pünktlich sind, gibt es auch Einzelfälle, die langsam sind in der Beantwortung von Mails oder in der Terminfindung. Unpünktlichkeit ist dann und wann auch ein Thema, was für die Mitspielenden eine Belastung werden kann. Gerade aus diesen Dingen aber lässt sich – neben der Musik – unendlich viel für das spätere Berufsleben lernen.
Wie ist es im Idealfall?
Im Idealfall finden sich Studierende ähnlichen Alters, mit einem hohen instrumentalen Können und einem echten Interesse an Kammermusik sowie einer Bereitschaft zu gemeinsamer Investition in Zeit und regelmäßige Arbeit. Es hilft, wenn eine gemeinsame Zielvorstellung bereits vorhanden ist (Repertoire, Wettbewerbe o. ä.), was aber keine Bedingung ist, denn vieles kann mit der Zeit wachsen. Man muss sich gegenseitig mitnehmen können, Verständnis füreinander haben. Und gemeinsame Normen und Umgangsformen entwickeln.
Professionelle Kammermusikarbeit in einem festen Ensemble steht immer im Spannungsfeld des komplexen studentischen Alltags der Einzelnen, mit Stellen in Orchesterakademien, mit Solowettbewerben oder Probespielen. Intensive Kammermusikarbeit bedeutet in den meisten Fällen auch Verzicht auf anderes und eine Kompromissbereitschaft in Bezug auf den eigenen, persönlichen Ehrgeiz.
In meinem Quartett war es so, dass der 2. Geiger einige erfolgreiche Probespiele absolvierte. Er hatte die Wahl zwischen guten Stellen in zwei Toporchestern. Als nach einigen Wochen bereits klar war, dass das Quartett damit nicht so weitermachen konnte, wie es geplant war, hat er wieder gekündigt. Und es bis heute nicht bereut.
Fragen & Kontakt
Weiterhören
Hörtipp: Prof. Tim Vogler ist im Podcast FOYERFUNK zu Gast. Begleitend zum Artikel in der „Frankfurt in Takt“ geht es in dieser Folge um die langjährige Zusammenarbeit in einem Streichquartett:
FOYERFUNK Nr. 24: Streichquartett – Ehe zu viert?
Sie haben über Jahre hinweg eine enge Beziehung zueinander: die Musiker*innen eines Streichquartetts. Aber wie finden vier Menschen einen gemeinsamen Weg? Welche Fähigkeiten brauchen sie, damit Zusammenspiel und Zusammenarbeit langfristig gelingen? Claudia Petermann hat Tim Vogler, den ersten Geiger im Vogler Quartett und Professor für Streicherkammermusik an der HfMDK, und Lilya Tymchyshyn, die Bratschistin im Malion Quartett, in den FOYERFUNK eingeladen. Mit ihnen spricht sie über zwischenmenschliche und musikalische Herausforderungen und über die Gratwanderung zwischen Individualität und Verschmelzung.
Weitere Folgen unter Podcast